Absolut lesenswert

Jürgen Mette: «Die Evangelikalen. Weder einzig noch artig»

Angela Merkel nannte die Evangelikalen einmal «intensiv evangelisch». Damit äusserte sich die deutsche Bundeskanzlerin und Tochter eines evangelischen Pfarrers gewohnt diplomatisch. Jürgen Mettes Buch «Die Evangelikalen» ist nicht diplomatisch. Es ist liebevoll-streitbar. Anklagend-betroffen. Einladend-fundiert. Wer sich in der evangelikalen Szene zu Hause weiss oder sich fragt, was evangelikal eigentlich ist, der kommt an diesem Buch nicht vorbei. Es ist ein Augenöffner im besten Sinne.

Zoom
Jürgen Mette
Jürgen Mette (66) kennt die Evangelikalen gut. Er war und ist selbst einer. In seinem aktuellen Buch findet er viele gute Seiten an diesen «intensiven Christen». Aber er sieht auch, dass sie bei aller Sehnsucht nach Klarheit durch uneiniges und internes Geplänkel zur harmlosen Randerscheinung der Geschichte verkommen. So fragt er: «Warum sollte sich eine immer mehr auseinanderstrebende und geistig obdachlose Gesellschaft für Jesus und die nach ihm benannte globale Körperschaft interessieren, wenn immer wieder einige ihrer Vertreter voneinander abrücken, statt um Gottes Willen eins zu sein und ihren Auftrag gemeinsam zu erfüllen?» (S. 26).

Was ist eigentlich evangelikal?

Zoom
Jürgen Mette will Brücken bauen zu anders Denkenden

Mit einem Blick in Richtung USA scheint für viele schnell geklärt, wer oder was evangelikal ist: Trump-Befürworter. Doch dies ist nur eines von zahlreichen Klischees, das der eigentlich sehr breiten Bewegung innerhalb der Kirche nicht gerecht wird. Und schon gar nicht in Deutschland. Die ungenaue Rückübersetzung des amerikanischen «evangelical» (also evangelisch) zu evangelikal wurde im Laufe der Zeit fast zu einem Kampfbegriff. Mette zitiert den Theologen und Journalisten Andreas Malessa zu diesem Klischee: «Wenn man die Presse verfolgt und auch die eigene evangelikale Presse, dann kommt man leider auf die Faustformel: Evangelikal – das bedeutet ‚Gott schuf die Welt in sechs Tagen‘, ‚Frauen gehören nicht auf die Kanzel‘ und ‚Kinder nicht in die Kita‘ und ‚Schwule nicht in die Kirche‘ und ‚Muslime nicht zu Deutschland‘. Das ist so ein holzschnittartiges Programm geworden, das aber nicht der evangelikalen Gemeindewirklichkeit entspricht.»

Jürgen Mette will kein Kompendium über evangelikale Theologie schreiben. Das haben andere bereits getan (er verweist unter anderem auf Gisa Bauer und Frederik Elwert). Er sieht vielmehr die Stärken und Schwächen der oft als «Stillen im Lande» bezeichneten Christen und setzt sich sehr persönlich, theologisch fundiert, praktisch und immer wieder provozierend damit auseinander. Man merkt deutlich: Hier schreibt einer, der seine Mitchristen liebt. Sonst würde er so nicht reden. Mette schreibt auch nie als endzeitlicher Mahner, der selbstgefällig am Rande steht und anderen deren unabwendbaren Untergang verkündet (natürlich nicht sich selbst!). Im Gegenteil. Immer wieder macht er sich selbst greifbar und angreifbar, indem er sich als Teil der Christen beschreibt, die er kritisiert.

Heraus aus den Schubladen

Lustigerweise benutzt Jürgen Mette ausgerechnet Schubladen, um den Evangelikalen ihr Schubladendenken vorzuhalten. Er unterteilt die Szene in drei Milieus: Allianz-, Bekenntnis- und charismatisch Evangelikale. Und er beschreibt das Mit- und Gegeneinander dieser drei Strömungen und Denkrichtungen so, dass man meint, man lese gerade die aktuelle Idea-Ausgabe.
Im weiteren Verlauf des Buchs geht er sehr konkret auf verkündigungsstarke und gleichzeitig fast sinnentleerte Begriffe wie «Bibeltreue» ein, die zur Abgrenzung gegen fast alles «Böse» eingesetzt werden: Liberalismus, Modernismus, Historisch-kritische Bibelauslegung etc. Der Autor geht auf Ursprünge und Auswirkungen solcher frommen Containerbegriffe ein. Und er versucht wieder und wieder, Brücken zu bauen zum Verständnis jeweils anders Denkender – ob dies nun Unfromme, Kirchenfromme oder Mit-Evangelikale sind.

Biografisch geprägt

Getreu dem Motto: keine Theologie ohne Biografie, wird Jürgen Mette sehr persönlich und schreibt einiges zu seinem eigenen Werdegang. Neben einem erhellenden: «Jetzt kann ich mir vorstellen, warum Sie so denken», werden die meisten Leser dabei wohl mehr als einen Blick in den Spiegel werfen und entdecken, wie sie ihre eigenen Überzeugungen gebildet und weiterentwickelt haben. Es ist sehr nachvollziehbar, was der Autor von Horst, dem Autobahnmissionar, immer wieder sich selbst erzählt: «Wir wollten treu sein. Aber wir waren trotz aller guten Vorsätze untreu… Ich hatte deswegen ein permanent schlechtes Gewissen.» (S. 51)

Wie er es erklärt, leuchtet es ein, dass sich der Sünder und Sünde eben nicht voneinander trennen lassen. Und dass meine Herkunft und mein Glaube tatsächlich eng zusammenhängen. Mette weiss: «Was ich heute bin, das bin ich erstens durch die Gnade Gottes, zweitens durch die Prägung meiner Eltern, drittens durch das persönliche Bibelstudium und die theologische Reflexion, viertens durch das Leben, das meinen Glauben geformt, erschüttert und immer wieder neu befestigt hat, und nicht zuletzt auch durch Menschen, die aus ganz anderen Prägungen kommen und mir Fremdes zugemutet haben.» (S. 110)

Eine besondere Betonung erhält der biografische Aspekt dadurch, dass Mette sich nicht auf die eigene Prägung beschränkt. Er lädt Gastkommentatoren ein, ihre Meinung, ihre Bedenken, ihren Glauben darzustellen. Wenn irgendetwas in diesem Buch die tatsächliche Breite des evangelikalen Lebens darstellt, dann genau diese sehr unterschiedlichen und ausgesprochen wertschätzenden Äusserungen von Persönlichkeiten wie Wolfgang Bühne (Brüdergemeinde), Tobias Faix (Emergente Bewegung), Ulrich Fischer (Badischer Bischof), Heinrich Derksen (Russlandsdeutscher Theologe) und anderen. Sie sind nicht einer Meinung. Aber sie reden miteinander. Und mehr noch: Sie sind trotzdem gemeinsam auf dem Weg des Glaubens unterwegs.

Das letzte Wort hat die Gnade

Nachdem Jürgen Mette zahlreiche Problemfelder beleuchtet, kommt er zum Schluss, dass ein neues Streben nach Einheit sich lohnt. Nach einer Einheit, die unterschiedliche Meinungen und Prägungen zulässt und dem Glauben eine neue Freiheit gibt, sich den wichtigen Fragen zu widmen. Dazu sind viele Schritte nötig: Verständnis füreinander, Streit miteinander, gegenseitige Korrektur und immer wieder das Orientieren an der Gnade Gottes. Wenn es um Gottes Liebe und Versöhnung geht, dann unterstreicht so manches evangelikale Nachfragen: «Ja, aber…», dass die Evangelikalen die Gnade noch nicht begriffen haben (S. 251).

Besteht denn noch Hoffnung für die Evangelikalen? Jürgen Mette zählt vieles auf, das sie konsequent falsch machen, weil sie in ihrem Denken gefangen sind. Bücher wie seines können ihnen (uns!) helfen, aus dieser Engführung herauszufinden. Denn Hoffnung ist da. Genauso wie die Herausforderung: «Die Kirche heilt im Vollzug ihres Auftrags. Sie dient und wird gesund. Oder sie veröffentlicht Papiere und bleibt harmlos… Eine von Jesus entflammte Kirche kann wieder glauben, dass sie möglicherweise ihre beste Zeit noch vor sich hat.» (S. 62) Lesenswert? Absolut!

Zum Thema:
Chrischona-Seniorentag: «Heil sein ist wichtiger als geheilt sein!»
Trump und die Evangelikalen: Wird «evangelikal» zum Unwort des Jahres?
«Evangelikale» Erziehung: Studie relativiert Gewaltvorwürfe

Datum: 28.01.2019
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

Kommentare

Glaubensfragen & Lebenshilfe

Diese Artikel könnten Sie interessieren

Was es mit DIR zu tun hat
Meghan und Harry sorgten mit einer «Netflix»-Doku für mächtig Wirbel. Die Autorin und «Woman Alive»-Chefredaktorin Tola Doll Fisher machte sich dazu...
Praisecamp 2023
Das Praisecamp 2023 ist Geschichte. Hier ein kleiner Rückblick
Praisecamp 2023
Das Praisecamp 2023 ist Geschichte. Hier ein kleiner Rückblick
Praisecamp 2023
Das Praisecamp 2023 ist Geschichte. Hier ein kleiner Rückblick

Anzeige