Nora Hunziker begleitet Menschen auf Berns Strasse und ist gerade auch während der Pandemie stark gefordert. Livenet sprach mit ihr über die Funktion der Berner Gassenarbeit im gesamten Berner Sozialnetz und natürlich über ihre Arbeit mit schicksalsträchtigen Lebensgeschichten.
Die Bedeutung vom Dach über dem Kopf, ein Ort, wo man warmes Essen zu sich nehmen kann, wurde durch die Corona-Zeit stärker ins Bewusstsein gerufen. Um Menschen, denen dies fehlt, kümmert sich die Kirchliche Gassenarbeit Bern. Sie steht für gelebte Nächstenliebe. Die Arbeit wird von einer grossen Anzahl reformierter Kirchen bis nach Kerzers und Spiez plus drei römisch-katholischen Gemeinden getragen. Regelmässig trifft sich das Team mit Vernetzungspartnern wie beispielsweise dem Fachbereich Sucht des Sozialdienstes Bern und der Anlaufstelle vom «CONTACT».
«Viele Menschen fragen nach Lebensmitteln»
Nora Hunziker erzählte gegenüber Livenet von Nächstenliebe, bedingungsloser Hilfe und was sie als Sozialarbeiterin, die auf der Gasse tätig ist, unter Anwaltschaftlichkeit versteht.
Livenet: Gab es spezielle Corona-Dynamiken im sozialen Bereich ? Nora Hunziker: Während der Pandemie wurden gewisse Partnerschaften intensiviert. Gerade am Anfang der Pandemie in der Schweiz mussten wir regelmässig evaluieren, welche Angebote und Institutionen überhaupt noch geöffnet und erreichbar sind. Die Stadt Bern organisierte regelmässige Treffen im Rahmen eines runden Tisches.
Wo besteht das grösste Bedürfnis für Hilfe und wie begegnet man ihm? Aktuell bieten wir da, wo eigentlich das grösste Bedürfnis besteht, keine Unterstützung. Viele Menschen fragen nach Lebensmitteln. Wir haben im ersten Lockdown im ersten Semester 2020 Lebensmittelsäcke verteilt. Im zweiten Lockdown verteilte die Initiative «Essen für alle» bei der Reitschule Lebensmittelsäcke. Leider ist es ohne Finanzierung von Infrastruktur und Personalkosten nicht möglich, ein solches Angebot langfristig aufrechtzuhalten. Die Nachfrage ist allerdings gross.
Ansonsten versuchen wir mit gezielter psychosozialer Einzelberatung die Bedürfnisse zu eruieren und tragfähige Lösungen zu erarbeiten. Ein Teil unseres Angebotes besteht auch darin, andere Materialien wie Menstruationsprodukte abzugeben, welche enorm teuer sind.
Gibt es besondere Eigenschaften Ihres Gassenarbeiter-Teams? Wir sind ein Team aus vier Frauen und einem Mann. Wir alle sind davon überzeugt, dass Menschen gut sind und Respekt verdient haben. Und vor allem ist keine Person selber schuld, dass sie sich in der jeweiligen prekären Lebenssituation befindet.
Und welche Menschen und Schicksale sind hauptsächlich auf der Gasse anzutreffen? Wir haben es mit sehr diversen Menschen zu tun, die sich in verschiedenen Lebenssituationen befinden. Diese umfassen die Themenbereichen Sucht, Wohnungslosigkeit, psychische Erkrankungen, Armut usw.
«Die Menschen, die wir antreffen,
sind spannende Personen
mit interessanten Ansichten
und gefüllten Leben.»
Ein Fokus unserer Arbeit ist der frauenspezifische Arbeitsbereich. Wir öffnen unser Büro am Dienstagnachmittag nur für Frauen. Jede zweite Woche schreiben wir mit den Frauen am Heft «Mascara», wo die Autorinnen Geschichten und Erlebnisse aus ihren Leben niederschreiben. Wir kennen seit Jahren eine ältere Frau, die trotz ihrer Wohnungslosigkeit ihre Tagesstruktur aufrechterhält und nach wie vor täglich das Haus ihrer alten Wohnung «fötzelet», weil sie sich dafür verantwortlich fühlt. Oder eine andere junge Frau hat grad letzthin nach langer Suche eine passende Wohnung gefunden, wo sie mit ihren Ängsten wohl ist.
Die Menschen, die wir antreffen, sind spannende Personen mit interessanten Ansichten und gefüllten Leben. Die Gespräche sind nicht nur auf Probleme zu reduzieren. Wir tauschen uns mit Klienten und Klientinnen über alle möglichen Lebensthemen aus. Was mich immer wieder beeindruckt, ist, wie unglaublich anpassungsfähig und optimistisch die meisten sind. Gerade in der Zeit der Pandemie, wo sich ihre Lebenswelt permanent verändert und sie wenig Halt haben, sind sie flexibel und passen sich immer wieder an die neuen Gegebenheiten an.
Was ist das Kirchliche an Ihrer Gassenarbeit? Wo unterscheidet sie sich von nichtkirchlichen Angeboten?
Unsere Arbeit unterscheidet sich von anderen Institutionen und nichtkirchlichen Angeboten in der Frage, von wem wir Aufträge annehmen. Wir arbeiten einzig auf Auftrag der Klientel. Jegliche Kontaktaufnahme mit uns erfolgt freiwillig. Wir suchen daher auch keine Orte auf oder intervenieren bei Einzelpersonen aufgrund einer Meldung von Drittpersonen oder Institutionen. Wir nennen diese Arbeitsweise «Parteilichkeit», Ein-Parteilichkeit oder Anwaltschaftlichkeit. Diese Arbeitsweise können wir nur aufrechterhalten, weil wir die Finanzierung über die Kirchgemeinden und neu, ab 2022, über Privatpersonen und juristische Personen decken können.
Die Kirchen und das Christentum geben der «Nächstenliebe» einen hohen Stellenwert. Wir arbeiten klar nach diesem Gedanken, respektive übersetzen diesen ganz praktisch in Solidarität. Das «kirchlich» ermöglicht somit eine bedingungslose Hilfe. Wir müssen nicht nach dem Mandat des Staates handeln.
Wie hat sich die Arbeit in den letzten Jahren verändert, was blieb gleich? Die Arbeitsweise und das Angebot blieben grundlegend unverändert. Mit unserem Vorstand arbeiten die jeweiligen Teammitglieder intensiv in Tandems zusammen, was die Abläufe vereinfacht und die Qualität der Arbeiten erhöht.
«Die Kirchen und das Christentum geben
der 'Nächstenliebe' einen hohen Stellenwert.
Wir arbeiten klar nach diesem Gedanken.»
Wir beabsichtigen, unsere Inhalte, Werte und politische Öffentlichkeitsarbeit in die breite Gesellschaft zu tragen. Entsprechend sollen Mitglieder des Vereins nahe an unseren Haltungen und unserer Arbeit sein können, um für die diversen prekären Lebenssituationen und deren Ursachen sensibilisiert zu werden.