Besorgnis über wachsenden Antisemitismus in Europa
Brüssel. Die Konferenz der Europäischen Rabbiner hat scharfe Kritik an der Haltung der Europäischen Union zu Israel geübt. Die EU-Politik sei einseitig, weil sie die Selbstverteidigung Israels gegen Terrorangriffe und Selbstmordattentate mit diesen Angriffen selbst gleich setze, sagte der Vizepräsident der Konferenz, der britische Oberrabbiner Jonathan Sacks, zum Abschluss der Generalversammlung der Konferenz vor Journalisten in Brüssel. Damit würden ein Verbrechen und die Verfolgung des Verbrechens auf eine Stufe gestellt. An der Konferenz hatten rund 200 Oberrabbiner aus allen Teilen Europas teilgenommen.
Israel suche Frieden und sei in der gegenwärtigen Situation nicht der Angreifer, sondern das Opfer, betonten die Oberhäupter des europäischen Judentums. Dies werde von der EU nicht ausreichend berücksichtigt. Grosse Besorgnis hätten zudem Berichte ausgelöst, wonach palästinensische Terrornetzwerke möglicherweise mit EU-Mitteln finanziert worden seien.
Antisemitismus in Europa beklagt
Ausdrücklich beklagten die Rabbiner den wachsenden Antisemitismus in Europa. Es fehle offenbar in allen Staaten des Kontinents am politischen Willen, schärfer gegen antisemitische Gewaltakte, Übergriffe und Ausschreitungen vorzugehen. "Wie viele Synagogen und jüdische Einrichtungen müssen noch brennen, bis die Verantwortlichen aufhören, von Einzelaktionen zu sprechen?" fragte Sacks. Die Welle des Antisemitismus müsse mit konkretem Handeln bekämpft werden.
Nach Ansicht der Rabbiner fehlt es am politischen Willen, die antisemitischen Gewaltakte polizeilich und juristisch zu verfolgen; die Gesetze seien ausreichend, doch fehle es bei der Umsetzung. Der Moskauer Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt sagte, es sei inzwischen sicherer, sich in Moskau mit der jüdischen Kopfbedeckung zu zeigen als in westeuropäischen Grossstädten wie Brüssel, London oder Paris.
Als eine der Ursachen für den zunehmenden Antisemitismus beklagten die Oberrabbiner den Werteverfall in Europa. Die zunehmende Zahl der Scheidungen, der allein Erziehenden und der Zerfall der traditionellen Familienstrukturen sei Anlass zu grosser Sorge, sagte Konferenz-Vizepräsident Sacks. Gerade in der gegenwärtigen Situation bräuchten die Menschen "Netzwerke der Sicherheit", und die Familie sei das grundlegende Netz dabei.
Starke Sicherheitsvorkehrungen
Die Europäische Rabbiner-Konferenz fand unter starken Sicherheitsvorkehrungen in einem EU-Gebäude in Brüssel statt. Nach Angaben von Konferenz-Organisator Rabbi Aba Dunner waren die Teilnehmer von den belgischen Sicherheitskräften aufgefordert worden, sich in Brüssel ohne die jüdische Kopfbedeckung Kipa oder Hüte zu zeigen, weil Ausschreitungen und Übergriffe befürchtet worden seien.
Die Konferenz Europäischer Rabbiner besteht seit 1957. Die Generalversammlung findet alle zwei Jahre statt. Präsident ist der französische Oberrabbiner Joseph Sitruk, der aus Gesundheitsgründen in Brüssel nicht teilnehmen konnte. EU-Kommissionspräsident Romano Prodi hatte am Montag zu der seit Sonntag tagenden Versammlung gesprochen. Dabei versprach Prodi, in der EU sollten antisemitische Akte "mit allen Mitteln und von Anfang an" bekämpft werden.