«Nur psychisch gesunde Menschen können die Zukunft gestalten»
Auch wenn der Irak weniger
Schlagzeilen als in den vergangenen Jahren generiert, stehen christliche
Werke den Betroffenen immer noch bei. Die psychische Gesundung der lokalen
Bevölkerung sei entscheidend, «weil die Zukunftsgestaltung sehr stark vom Grad
der Zuversicht eines Menschen abhängt», sagt Wolfgang Binninger von «Medair».
Aufbau eines Gesundheitszeltes für Flüchtlinge an der irakisch-syrischen Grenze
Livenet: Wie wichtig ist die Trauma-Begleitung
und psychologische Hilfe?
Wolfgang Binninger: Psychologische Unterstützung ist von grosser Bedeutung: 1948
wurde die Weltgesundheitsorganisation in Genf gegründet. In ihrer Verfassung steht,
dass «Gesundheit ein Zustand des vollständigen, körperlichen, geistigen und
sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheiten oder Gebrechen»
ist.
Sehr viele der Vertriebenen sind höchst verwundbar, gerade auch in psychischer Hinsicht. Das Thema psychische
Gesundheit ist im Irak jedoch stigmatisiert und es besteht eine kritische Lücke
in der Grundversorgung von psychologischen und psychosozialen Diensten. Gemäss
meiner Kollegin gibt es im gesamten Irak nur 70 eingetragene
Psychologen und weniger als eine Handvoll Psychiater.
Was
haben Sie vor Ort erlebt?
Während meines Besuchs
konnte ich mit Menschen aus den verschiedensten Hintergründen über ihre
Erlebnisse und ihre gegenwärtige Situation sprechen. Das Gehörte wie
beispielsweise die Fluchtursachen und die individuellen Begleitumstände der
Flucht waren für mich sehr verstörend.
Mit einer unserer Medair-Ärztinnen
besuchte ich den komplett zerstörten Bazar ihres Heimatorts. Sie war nach über
fünf Jahren das erste Mal wieder an diesem Ort, der bis zum 3. August 2014 das
gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Zentrum ihrer Stadt gewesen
war. Zu sehen, wie schwer es ihr fiel, über das Erlebte zu sprechen, wie ihr im
Gespräch inmitten der Trümmer Erinnerungen in den Sinn kamen, die sie bisher
noch nicht formulieren konnte und die ihr immer wieder die Stimme versagen
liessen – wie es ihr aber trotzdem ein Anliegen war, weiterzusprechen – dies
alles war sehr berührend. An den Folgetagen erlebte ich sie erheblich gelöster
und freier. Sie liess mich dann auch wissen, wie gut es ihr getan hat, die
Erlebnisse mit jemandem teilen zu können. Diese Erfahrung war für mich ein
Schlüsselerlebnis. Sie zeigte mir auf, wie wichtig psychologische Hilfe für die
Trauma-Bewältigung ist und dass sie ein unersetzlicher Teil einer
ganzheitlichen humanitären Arbeit ist.
Was kann durch Ihre Arbeit
erreicht werden?
Meiner
Überzeugung nach kommt der psychischen Gesundung der lokalen Bevölkerung eine
grosse Bedeutung zu, weil die Zukunftsgestaltung sehr stark vom Grad der
Zuversicht eines Menschen abhängt. Nebst Nothilfe und der Versorgung mit den
lebenswichtigsten Gütern und Diensten ist es uns wichtig, die Menschen auch in
ihrer Widerstandsfähigkeit zu stärken und ihnen Würde zurückzugeben. Als
Fluchtursachen oder auf der Flucht selbst haben diese Personen
äusserst entwürdigende Situationen erlebt: Vergewaltigungen, sie waren Zeuge
von Hinrichtungen, haben Angehörige verloren, litten an Hunger, Durst, Hitze,
Kälte. Jeder humanitäre Einsatz sollte deshalb auch zwingend die psychische
Gesundheit und die gesellschaftlichen Auswirkungen des Krisenereignisses
berücksichtigen.
Wie kann zum Überwinden des Traumas
beigetragen werden?
Nicht
jeder Mensch reagiert auf eine solche Situation jedoch gleich. So kann gemäss
Riёt
Kroeze, Expertin für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung (MHPSS)
bei Medair, die Wiederherstellung von Unterstützungsstrukturen und die
Sensibilisierung für positive Bewältigungsmechanismen bereits die ganze
benötigte Unterstützung sein, die manche Menschen brauchen, um ihr geistiges
und psychosoziales Wohlbefinden wiederherzustellen. Riёt Kroeze formuliert es jeweils so: «Du kannst nicht
erwarten, dass die Menschen eine kaputte Gemeinschaft mit einem kaputten
Verstand wieder aufbauen.»