Früher hätte man gesagt: «Die Tinte in der Zeitung war noch gar nicht richtig trocken.» Am 3. Januar kam die frohe Botschaft, dass in Istanbul eine Kirche gebaut werden dürfte – die erste nach über 90 Jahren. Ab 6. Januar häuften sich die Hinweise, dass dies so nicht stimmt. Und jetzt scheint es klar zu sein: Die Nachricht war eine Mogelpackung.
Türkische Flagge
Theoretisch ist die Türkei laizistisch geprägt – Staat und Religion sind streng getrennt. Praktisch durfte die christliche Minderheit im gesamten Land seit über 90 Jahren kein neues Kirchengebäude mehr errichten: Renovierung von Altbauten war das Maximum. Umso erfreuter reagierten die Medien auf eine Meldung aus der Türkei, dass nun eine Kirche gebaut werden dürfte. Ebenso wie Idea, Pro oder die ZEIT berichtete auch Livenet von den hoffnungsvollen Aussichten.
Vorgeschichte
Warum hatten türkische Regierungssprecher und die Zeitung Hürriyet Anfang des Jahres die Nachricht vom Kirchenneubau verbreitet? Das Land am Bosporus präsentiert sich gern als Brücke nach Asien, als weltoffen – und als EU-Beitrittskandidat. Allerdings gewinnen zurzeit strengere islamische Gruppierungen an Einfluss.
Der letzte Prominente, der deshalb die Türkei aufforderte, tolerant mit ihrer Minderheit von gut 100'000 Christen umzugehen, war Ende November Papst Franziskus. Dazu kam sicher das Bewusstsein, dass sich genau jetzt viele Menschen an die Ermordung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern erinnern würden, die vor genau 100 Jahren geschah. Da schafft positive Presse ein gutes Gegengewicht …
Falschmeldung
Ahmet Davutoglu, türkischer Ministerpräsident
Die türkische Presse verkündete eine Äusserung von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu bei einem Treffen mit Religionsführern nicht-muslimischer Minderheiten. Eine syrisch-orthodoxe Gemeinde dürfe mit Erlaubnis der Regierung auf städtischem Grund und Boden eine neue Kirche bauen. Das Ganze sollte im Istanbuler Stadtteil Yesilköy auf der europäischen Seite der Stadt am Ufer des Marmarameeres stattfinden – doch diese Meldung ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit falsch, wie die Politologin Susanne Güsten ermittelte.
Tatsächliche Hintergründe
Die Korrespondentin forscht am «Istanbul Policy Center» zur Lage der aramäischen und assyrischen Christen in der Türkei und Deutschland. In ihrem Bericht für Domradio kritisiert sie folgende Punkte:
1.) Die Meldung ist alt
Die syrisch-orthodoxe Gemeinde plane bereits seit längerem den Neubau einer Kirche. Bereits vor drei Jahren sei er genehmigt worden; auch das Grundstück hätte die Stadt der Gemeinde schon damals zugewiesen. Einen Baubeginn gab es noch nicht, denn unmittelbar nach der Genehmigung erhoben türkische Behörden zahlreiche Einsprüche. Die zeitgleich genehmigte 30'000-Quadratmeter-Moschee auf dem höchsten Hügel Istanbuls ist laut der Zeitung «Taraf» inzwischen beinahe abgeschlossen – die Kirche allerdings kommt nicht aus dem Planungsstadium hinaus. Güsten erklärt dazu: «Bei genauerer Betrachtung illustriert der Fall … die anhaltende Misere des türkischen Umgangs mit ihren christlichen Minderheiten.»
2.) Das Grundstück gehört der katholischen Kirche
Beim Grundstück, das die orthodoxen Christen bebauen sollen, handelt es sich zudem offenbar nicht um städtischen Boden. Es scheint vielmehr ein katholischer Friedhof zu sein, der der Kirche 1950 vom Staat weggenommen wurde. Er ist seitdem geschlossen. Solcherlei staatliche Enteignungen der christlichen Minderheit sind in der Türkei gang und gäbe. Die katholische Kirche kämpft seit Langem vergeblich für die Rückgabe des Friedhofs. Diesen jetzt einer anderen Glaubensgemeinschaft zum Kauf und Bau einer Kirche anzubieten, lässt sich also keinesfalls als Entspannungssignal in Richtung der christlichen Minderheit deuten – im Gegenteil: Die Christen werden damit verspottet.
3.) Es gibt keine konkrete Zusage für einen Kirchenbau
Dass sich an diesem Stillstand etwas ändert, ist trotz türkischer Presseberichte sehr unwahrscheinlich. Denn entgegen den ersten Meldungen, die nach einem baldigen Baubeginn klangen, berichtet die liberale Zeitung «Taraf», dass Ministerpräsident Davutoglu den baldigen Neubau keineswegs zugesagt habe. Er habe lediglich erklärt, sich «darum zu kümmern».